Abbruch der Zahnbehandlung – Wechsel der Krankenversicherung

Wechselt ein Versicherungsnehmer nach der Erstellung eines Heil- und Kostenplans den Krankenversicherer, ohne die dort vorgeschlagene Behandlung durchführen zu lassen, so stellt eine Jahre später aufgrund erneut aufgetretener Schmerzen durchgeführte Zahnbehandlung im selben Bereich einen neuen Versicherungsfall dar, der nicht wegen Vorvertraglichkeit vom Versicherungsschutz ausgeschlossen ist.

Kernpunkte des Streits sind die beiden in § 1 Teil I (2) der von der Beklagten verwandten „Allgemeinen Versicherungsbedingungen Teil I – III, Stand 1.2009“ (im Folgenden: „AVB“, identisch mit § 1 (2) MB/KK) geregelten Fragestellungen, ob bereits im Jahr 2006 ein Versicherungsfall begonnen und bis zum Jahr 2010 fortgedauert habe. Entscheidungserheblich ist dies deshalb, weil gem. § 2 Teil I (2) S. 2 AVB (identisch mit § 2 Abs. 1 S. 2 MB/KK) ein bereits vor Versicherungsbeginn eingetretener Versicherungsfall nicht versichert ist. Nach wohl überwiegender Auffassung ist die Klausel als primäre Risikobegrenzung zu verstehen, nicht als bloßer Risikoausschluss1. Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, dass die im November 2005 begonnenen Behandlungen und die sich daran anschließende Erstellung des Heil- und Kostenplans vom 05.09.2006 einen Versicherungsfall i. S. von § 1 Teil I (2) S. 1 AVB darstellten.

Entscheidende Bedeutung kommt damit der Frage zu, ob dieser Versicherungsfall mit der letztmaligen Behandlung am 22.08.2006 (Extraktion von Zahn 16),endete und mit erneuter Konsultation von Dr. K. am 10.02.2010 ein neuer Versicherungsfall eintrat, für den die Beklagte Versicherungsschutz gewähren muss, oder ob der Versicherungsfall, der durch die Einleitung der Behandlung im November 2005 begonnen hat, lediglich unterbrochen und am 10.02.2010 fortgesetzt wurde, so dass es sich um einen vorvertraglichen Versicherungsfall handelt, für den nicht die Beklagte, sondern allenfalls die VorgängerVersicherung Deckung leisten muss.

Maßgeblich ist dabei, ob die Behandlungsbedürftigkeit nach der letzten auf Heilung gerichteten Behandlung am 22.08.2006 entfallen ist. Dies bemisst sich nicht nach subjektiven, sondern objektiven Kriterien2. Regelmäßig entfällt die Behandlungsbedürftigkeit ab dem Zeitpunkt, ab dem die Fortführung der Heilbehandlung medizinisch nicht mehr notwendig ist3. Mit dieser Begriffsbestimmung wird für die Beendigung des Versicherungsfalles an denselben Umstand angeknüpft, der für dessen Eintritt, nämlich den Beginn einer medizinisch notwendigen Heilbehandlung, maßgeblich ist.

Für den Begriff der medizinischen Notwendigkeit einer Heilbehandlung als Voraussetzung eines Versicherungsfalles genügt es, dass der objektive medizinische Befund es nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft als objektiv vertretbar erscheinen lässt, die Behandlung als medizinisch erforderlich anzusehen4. Damit ist ein nach objektiven Kriterien zu bestimmender Entscheidungsspielraum eröffnet, innerhalb dessen nicht nur die Entscheidung über das „Wie“, sondern auch das „Ob“ der Behandlung getroffen werden muss, aber auch getroffen werden kann. So, wie für den Beginn der Heilbehandlung ein solcher Entscheidungsspielraum gegeben ist, gilt dies durch die Bezugnahme auf das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit auch für deren Beendigung. Konsequenterweise muss für die Beurteilung, ob die Behandlungsbedürftigkeit entfallen ist, weil sie medizinisch nicht mehr notwendig ist, derselbe durch die Vertretbarkeit der getroffenen Entscheidung begrenzte Beurteilungsspielraum eröffnet sein.

Zwar ist anerkannt, dass dieser Entscheidungsspielraum nicht durch die subjektive Einschätzung des behandelnden Arztes definiert wird, sondern anhand einer objektiven Sicht nach Maßgabe des Stands der medizinischen Wissenschaft. Folglich ist das Zeugnis des behandelnden Arztes kein geeignetes Beweismittel für die Ermittlung der Grenzen der vertretbaren Entscheidungen; vielmehr bedarf es hierfür der Einholung eines Sachverständigengutachtens5. Demzufolge kommt nach der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung der Aussage des Zeugen Dr. K., der die Behandlung zum 22.08.2006 für abgeschlossen erachtete und – wie sich bereits seiner schriftlichen Auskunft vom 26.04.2010 entnehmen lässt – seine Tätigkeit ab Februar 2010 als neue Heilbehandlung ansah, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu.

Aufgrund folgender beider Umstände ist es im vorliegend vom Oberlandesgericht Stuttgart entschiedenen Fall nach Ansicht des Oberlandesgerichts nicht erforderlich, ein Sachverständigengutachten einzuholen zur Beantwortung der Frage, ob die Einstellung der Behandlung ab August 2006 als medizinisch vertretbare Beendigung der Heilbehandlung oder lediglich als deren Unterbrechung anzusehen sei:

  • Mit der Extraktion des Zahns Nr. 16 am 22.08.2006 war das Ziel der Behandlung erreicht, aktuell Schmerz- und Beschwerdefreiheit herzustellen.
  • Die Funktionsfähigkeit des Gebisses war wieder soweit hergestellt, dass der Kläger immerhin rund 3 1/2 Jahre beschwerdefrei war.

Insbesondere dem erstgenannten Gesichtspunkt wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung maßgebliche Bedeutung für das nach objektiven Kriterien zu bestimmende Ende der Behandlungsbedürftigkeit zugemessen6.

Dieser Ansicht ist zu folgen. Denn nur sie liefert praktisch taugliche Abgrenzungen, die den Versicherungsschutz des Versicherten bei einem Wechsel des Versicherers nicht leer laufen lässt in den Fällen, in denen kontinuierlich fortschreitenden Krankheitsprozessen mit abgestuften Behandlungsmaßnahmen begegnet wird, etwa bei altersbedingten Verschleißerkrankungen an Gelenken, die zunächst äußerlich behandelt werden, bis sich damit kein Behandlungserfolg mehr erzielen lässt, dann mit Operationen möglichst geringer Eingriffsqualität bis hin zu prothetischen Maßnahmen. Es wäre nur schwer nachvollziehbar, dass die erfolgreiche Verordnung eines Salbenverbands wegen einer verschleißbedingten Knieschwellung am Anfang derselben Behandlung stehen soll, die viele Jahre später mit dem Einsatz eines künstlichen Kniegelenks ihr Ende finden soll.

Deshalb ist der vorliegende Fall nicht anders zu beurteilen als der vom OLG Hamm entschiedene, so dass sich bereits aus der Herstellung von Schmerz- und Beschwerdefreiheit im August 2006 das Ende der Behandlungsbedürftigkeit und damit das Ende des im November 2005 begonnenen Versicherungsfalles ergibt.

Im Jahr 2010 wurde dann aufgrund des veränderten Befundes eine neue Diagnose gestellt und eine neue, der Veränderung angepasste Therapie vorgeschlagen.

Demzufolge hat der Kläger Anspruch auf Deckung der entstehenden Behandlungskosten entsprechend dem neuen Heil- und Kostenplan, was antragsgemäß festzustellen ist.

Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil vom 7. Juli 2011 – 7 U 27/11

  1. vgl. OLG Hamm R+S 1989, 370 f.: nicht ausdrücklich so angesprochen; die Ausführungen zur Beweislast lassen jedoch auf diese Auffassung schließen; Bach/Moser/Hütt, Private Krankenversicherung, 4. A., § 2 MB/KK Rdnr. 38, 39]

    Versicherungsfall ist nach dem in § 1 Teil I (2) S. 1 AVB beschriebenen Grundsatz die medizinisch notwendige Heilbehandlung. Er beginnt jedoch gem. § 1 Teil I (2) S. 2 AVB nicht bereits mit der Erkrankung selbst, sondern erst mit deren Heilbehandlung und endet nicht schon mit deren Abbruch oder Beendigung, sondern erst mit dem Wegfall der nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilenden Behandlungsbedürftigkeit.

    Dabei gehört nach gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung bereits die erstmalige Untersuchung zur Klärung, ob eine Erkrankung vorliegt und ob diese ggf. behandlungsbedürftig ist, zur Heilbehandlung im Sinne der obigen Definition des Versicherungsfalls, ebenso die Erstellung eines Heil- und Kostenplans ((vgl. BGH NJW 1978, 1197[]

  2. BGH VersR 1978, 271, 272, bei Juris Rdnr. 22[]
  3. OLG Celle VersR 1962, 1145; Bach/Moser/Kalis, aaO, § 1 MB/KK Rdnr. 45 a. E.[]
  4. Bach/Moser/Kalis, aaO, § 1 MB/KK Rdnr. 29 Mitte, 30 a. E.[]
  5. vgl. BGH VersR 1979, 221; OLG Koblenz VersR 2008, 339 f; OLG Köln VersR 2004, 631 ff; weitere Rechtsprechungsnachweise bei Bach/Moser/Kalis, aaO, § 1 MB/KK Rdnr. 30 a. E.[]
  6. vgl. OLG Hamm R+S 1989, 370 f[]