Anforderungen an die Erfolgsaussichten einer alternativen Behandlungsmethode in der Krebstherapie

§ 1 Teil I (2) MB/KK 2009 knüpft bei der Beschreibung des Versicherungsfalls mit dem Begriff „medizinisch notwendige Heilbehandlung“ auch für den Versicherungsnehmer erkennbar nicht an den Vertrag zwischen dem Versicherungsnehmer und dem behandelnden Arzt und die nach diesem Vertrag geschuldete medizinische Heilbehandlung an. Vielmehr wird damit ein objektiver, vom Vertrag zwischen Arzt und Patient unabhängiger Maßstab eingeführt1. Diese objektive Anknüpfung bedeutet zugleich, dass es für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung nicht auf die Auffassung des Versicherungsnehmers und auch nicht allein auf die seines behandelnden Arztes ankommen kann2. Gegenstand der Beurteilung können nur die objektiven medizinischen Befunde und Erkenntnisse im Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung sein. Demgemäß liegt eine „medizinisch notwendige“ Heilbehandlung i.S. des § 1 Teil I (2) MB/KK 76 jedenfalls dann vor, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, sie als notwendig anzusehen3.

Von der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung ist im Allgemeinen dann auszugehen, wenn sich eine Behandlungsmethode dazu eignet, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken4. Steht diese Eignung nach medizinischen Erkenntnissen fest, ist der Versicherer eintrittspflichtig.

Leidet der Versicherungsnehmer an einer unheilbaren Krankheit, bei der es selbst für eine auf die Verhinderung einer Verschlimmerung abzielende Heilbehandlung keine in der Praxis angewandte Behandlungsmethode gibt, die sich nach medizinischen Erkenntnissen zur Herbeiführung wenigstens dieses Behandlungszieles eignet, kommt jeder gleichwohl durchgeführten Behandlung zwangsläufig Versuchscharakter zu und kann der Nachweis medizinischer Eignung naturgemäß nicht geführt werden5. Das schließt indessen die Annahme der medizinischen Notwendigkeit einer solchen Behandlung jedenfalls dann nicht aus, wenn die Behandlung auf eine schwere, lebensbedrohende oder gar lebenszerstörende Krankheit zielt. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird § 1 Teil I (2) MB/KK 2009 einen solchen Ausschluss nicht entnehmen, sondern die Klausel dahin verstehen, dass bei einer unheilbaren, lebenszerstörenden Krankheit auch eine Heilbehandlung als notwendig anzusehen ist, der zwar noch Versuchscharakter anhaftet, die aber jedenfalls medizinisch begründbar Aussicht auf Heilung oder Linderung verspricht6.

In diesem Verständnis bestärkt ihn die in § 4 Teil I (6) MB/KK 2009 getroffene Regelung über den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers. Danach leistet dieser nicht nur für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind oder sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben, sondern auch für Methoden oder Arzneimittel, die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen (§ 4 Teil I (6), Satz 2 Halbsatz 1, letzte Alternative MB/KK 2009).

Demgemäß kann bei einer lebensbedrohenden oder gar lebenszerstörenden, unheilbaren Erkrankung des Versicherungsnehmers nicht mehr darauf abgestellt werden, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behandlungsziels tatsächlich eignet. Vielmehr ist in solchen Fällen die objektive Vertretbarkeit der Behandlung bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme als wahrscheinlich geeignet angesehen werden konnte, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Dabei ist nicht einmal zu fordern, dass der Behandlungserfolg näher liegt als sein Ausbleiben. Vielmehr reicht es aus, wenn die Behandlung mit nicht nur ganz geringer Erfolgsaussicht die Erreichung des Behandlungsziels als möglich erscheinen lässt7.

Das setzt lediglich voraus, dass die gewählte Behandlungsmethode auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruht, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermag, sie somit zumindest wahrscheinlich macht. Einer solchen Annahme steht nicht entgegen, dass eine Behandlungsmethode noch nicht in der medizinischen Literatur nach wissenschaftlichem Standard dokumentiert und bewertet worden ist. Liegen entsprechende Veröffentlichungen vor, können sie zwar für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung bedeutsam sein; andererseits kann auf eine bisher fehlende Veröffentlichung die Verneinung der medizinischen Notwendigkeit der Behandlung nicht gestützt werden8. Für die Beurteilung der Behandlungsmethode kann es ausreichen, wenn diese vor der Behandlung des Versicherungsnehmers bereits anderweitig erprobt worden ist. Haben entsprechende Behandlungen schon zuvor in einer solchen Anzahl stattgefunden, die Aussagen jedenfalls darüber zulässt, ob die Behandlung die mit ihr erstrebte Wirkung wahrscheinlich zu erreichen geeignet ist, kann darin ein besonders aussagekräftiger Umstand für die Beurteilung der Notwendigkeit der Heilbehandlung zu erkennen sein.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30. Oktober 2013 – IV ZR 307/12

  1. BGH, Urteile vom 10.07.1996 – IV ZR 133/95, BGHZ 133, 208, 212 zu den insoweit gleichlautenden Bestimmungen der MB/KK 76; vom 14.12.1977 – IV ZR 12/76, VersR 1978, 271 unter II 1[]
  2. BGH, Urteil vom 10.07.1996, aaO S. 212 f. m.w.N.[]
  3. BGH, Urteile vom 10.07.1996, aaO, vom 29.11.1978 – IV ZR 175/77, VersR 1979, 221 unter III; vom 29.05.1991 – IV ZR 151/90, VersR 1991, 987 unter 2 a und ständig[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 10.07.1996, aaO S. 214; vom 17.12.1986 – IVa ZR 78/85, BGHZ 99, 228, 233 f.[]
  5. vgl. zur Behandlung multipler Sklerose, BGH, Urteil vom 02.12.1981 – IVa ZR 206/80, VersR 1982, 285 unter III, 4[]
  6. vgl. zu § 1 Abs. 2 MB/KK 76; BGH, Urteil vom 10.07.1996, aaO S. 214 f.[]
  7. BGH, Urteil vom 10.07.1996, aaO S. 215[]
  8. BGH, Urteil vom 10.07.1996, aaO[]