Gliedertaxe in der Unfallversicherung

Nach der für die Bemessung der Invaliditätsleistung maßgeblichen Gliedertaxe schließt der Verlust oder die Funktionsunfähigkeit eines funktionell höher bewerteten, rumpfnäheren Gliedes den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Gliedes ein (hier: Schulter und Hand des rechten Arms). Eine Addition der einzelnen Invaliditätsgrade findet nicht statt.

Führt die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Körperteils zu einem höheren Invaliditätsgrad als die Funktionsunfähigkeit des rumpfnäheren Körperteils, so stellt die Invaliditätsleistung für das rumpffernere Körperteil die Untergrenze der geschuldeten Versicherungsleistung dar.

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an1. Hierbei sind Versicherungsbedingungen aus sich selbst heraus zu interpretieren ohne vergleichende Betrachtung mit anderen Bedingungen, die dem Versicherungsnehmer regelmäßig nicht bekannt sind und auch nicht bekannt sein müssen, so dass ihm eine bedingungsübergreifende Würdigung von vornherein verschlossen bleibt. Die Entstehungsgeschichte der Bedingungen hat ebenso wie ihre spätere Entwicklung außer Betracht zu bleiben2.

Ein um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer entnimmt § 7 I (1) AUB 88 zunächst, dass die Beklagte ihm eine Invaliditätsleistung verspricht für den Fall, dass ein Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung seiner körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) führt. Grundlage für die Berechnung der Leistung bilden die Versicherungssumme und der Grad der unfallbedingten Invalidität. Wie sich die Höhe der Leistungen im Einzelnen bemisst, kann der Versicherungsnehmer § 7 I (2) a) AUB 88 für die dort genannten Körperteile und Sinnesorgane entnehmen. Die Gliedertaxe bestimmt nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder diesem gleichgestellter Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Gliedes. Demgemäß beschreibt die Regelung abgegrenzte Teilbereiche eines Armes und Beines und ordnet jedem Teilbereich einen festen Invaliditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilgliedes steigt. Die Gliedertaxe stellt damit für den Verlust und für die Funktionsunfähigkeit der in ihr genannten Gliedmaßen oder deren Teilbereiche durchgängig allein auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ab3.

Der Systematik der Gliedertaxe kann der Versicherungsnehmer ferner entnehmen, dass für die Bereiche der mit dem Arm und dem Bein zusammenhängenden Körperteile abgestufte Invaliditätsgrade festgesetzt werden, die beim Arm mit der Bewertung der Invalidität eines Fingers mit 5% beginnen und mit dem Arm im Schultergelenk mit 70% enden. Hiermit trägt die Gliedertaxe dem Umstand Rechnung, dass Gliedverluste Entsprechendes gilt für völlige oder teilweise Gebrauchsunfähigkeit mit zunehmender Rumpfnähe der Stelle, an der das Körperglied verloren gegangen (oder die Gebrauchsbeeinträchtigungen auslösende Ursache zu lokalisieren) ist, zu wachsender Einschränkung der generellen Leistungsfähigkeit von Menschen führen4.

Ausgehend hiervon erkennt ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer, dass der Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des Armes im Schultergelenk (nur) deshalb mit dem höchsten Invaliditätsgrad von 70% bemessen wird, weil hierin zugleich die Beeinträchtigung der übrigen Teilglieder des Armes enthalten ist. In jedem der in der Gliedertaxe genannten Invaliditätssätze ist bereits mitberücksichtigt, wie sich der unfallbedingte Verlust oder die Gebrauchsunfähigkeit eines Gliedteils auf den verbleibenden Gliedrest auswirkt. Daraus resultiert das Ansteigen des Invaliditätsprozentsatzes mit zunehmender Rumpfnähe des Gliedverlustes oder der Funktionsstörung5. Anderenfalls wäre kein Grund dafür ersichtlich, warum der Invaliditätsgrad kontinuierlich mit Rumpfnähe ansteigt. Wären die Invaliditätsgrade für die verschiedenen Teilglieder isoliert zu berechnen und zu addieren, so müsste eine gesonderte Bewertung der rumpfnäheren Teilglieder ohne Berücksichtigung der rumpfferneren erfolgen.

Den Grundsatz, dass keine Addition der einzelnen Invaliditätswerte erfolgt, wird der Versicherungsnehmer auch daraus entnehmen, dass für den gesamten Arm im Schultergelenk lediglich eine maximale Invalidität von 70% vorgesehen ist. Wären demgegenüber sämtliche Invaliditätsgrade der Teilglieder zu addieren, würde der Versicherungsnehmer bereits bei vollständiger Invalidität der Hand im Handgelenk, des Daumens und der Finger eine 100%ige Invalidität erreichen. Käme noch der Arm unterhalb bzw. oberhalb des Ellenbogengelenks hinzu, so ergäbe sich häufig eine Invalidität von über 100% und eine Deckelung auf 100% würde jeweils erst durch die Regelung in § 7 I (2) d)) AUB 88 erreicht6.

Ferner ersieht der Versicherungsnehmer aus der Gliedertaxe, dass diese Verlust und Funktionsunfähigkeit der aufgeführten Körperteile und Sinnesorgane gleichstellt. Hierbei spielt es keine Rolle, dass etwa der Verlust eines Armes oder einer Hand der Funktionsunfähigkeit dieses Gliedes im Gelenk bei verbleibender Teilfunktionsfähigkeit nicht gleichstehen muss, gleichwohl aber derselbe Invaliditätsgrad in Betracht kommt. Der Versicherungsnehmer kann das auf die mit der Gliedertaxe vorgenommene pauschalisierende Bewertung des Invaliditätsgrades zurückführen, deren versicherungswirtschaftliche oder medizinische Rechtfertigung sich ihm ohnehin nicht erschließt7. Dieser Bewertung kann der Versicherungsnehmer zugleich entnehmen, dass der Verlust eines Körperteils oder Sinnesorgans in jedem Fall denselben Invaliditätsgrad nach sich zieht wie die Funktionsunfähigkeit. Das wäre aber nicht mehr der Fall, wenn bei Funktionsunfähigkeit die Invaliditätsgrade von rumpffernen und rumpfnahen Körperteilen zusammenzurechnen wären. Dies würde wie vom Kläger geltend gemacht beim Arm im Schultergelenk und dessen vollständiger Funktionsunfähigkeit bei gleichzeitiger Funktionsunfähigkeit rumpffernerer Teilglieder dazu führen, dass der Invaliditätsgrad regelmäßig deutlich über 100% liegt, während bei vollständigem Verlust eines Armes im Schultergelenk, etwa infolge Amputation, immer nur die Höchstgrenze der Invalidität von 70% zu gewähren wäre. Eine derart unterschiedliche Invaliditätsbemessung erschließt sich einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht.

Der Kläger kann auch nichts aus der Regelung in § 7 I (2) d) AUB 88 für sich herleiten, die bestimmt, dass bei Beeinträchtigung mehrerer Körperteile oder Sinnesorgane die nach den vorstehenden Bestimmungen ermittelten Invaliditätsgrade zusammengerechnet, mehr als 100% jedoch nicht angenommen werden. Diese Addition greift nur in dem Fall ein, dass nach den vorangegangenen Bestimmungen isolierte Invaliditätsgrade anzusetzen sind. Das kann etwa in Betracht kommen, wenn der Arm und das Bein beeinträchtigt sind oder es um eine Kombination der Invalidität nach der Gliedertaxe mit der Invaliditätsbestimmung nach der allgemeinen Regelung in § 7 I (2) c) AUB 88 geht. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Ohne Erfolg beruft sich die Revision ferner auf die Unklarheitenregelung gemäß § 305c Abs. 2 BGB. Unklar sind Klauseln, bei denen nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel bleibt und mindestens zwei Auslegungen rechtlich vertretbar sind8. Demgegenüber genügt es für eine Unklarheit nicht, dass eine Klausel lediglich auf den ersten Blick unklar erscheint oder Streit über ihre Auslegung besteht9. Auf dieser Grundlage ist nach den obigen Ausführungen für eine Mehrdeutigkeit oder sonstige Unklarheit i.S. des § 305c Abs. 2 BGB nichts ersichtlich. Insbesondere kann der Kläger zu seinen Gunsten nichts aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Klauseln in der Gliedertaxe bezüglich des „Fußes im Fußgelenk“10, der „Hand im Handgelenk“11 sowie des „Armes im Schultergelenk“12 herleiten. In diesen Urteilen hat der Bundesgerichtshof lediglich entschieden, dass die entsprechenden Formulierungen der Gliedertaxe unklar sind, weil sie sowohl eine Auslegung dahin erlauben, dass bereits auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenks isoliert abzustellen ist, als auch eine solche Interpretation möglich ist, nach der es auf die Funktionsunfähigkeit des gesamten Teilgliedes Hand, Schulter bzw. Fuß ankommt. In diesen Fällen kommt nach § 305c Abs. 2 BGB die dem Versicherungsnehmer günstigste Auslegung in Betracht, mithin ein Abstellen allein auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenkes selbst.

Um eine derartige Fallkonstellation geht es hier nicht, sondern um Funktionsunfähigkeiten in verschiedenen Teilbereichen des Armes vom Schultergelenk bis hinunter zu den Fingern. Mit der Frage, ob bei Funktionsunfähigkeit verschiedener Teilglieder eines Armes oder Beines der Invaliditätsgrad für das jeweils rumpfnähere Körperteil den Invaliditätsgrad für das rumpffernere Körperteil beinhaltet, hat der Bundesgerichtshof sich in den genannten Entscheidungen nicht befasst. Selbst wenn es im Einzelfall in Betracht kommt, dass der Versicherungsnehmer etwa die Regelung bezüglich des „Armes im Schultergelenk“ dahin verstehen darf, dass es für die Funktionsunfähigkeit allein auf das Gelenk ankommt, führt dies nicht dazu, dass er zugleich davon ausgehen dürfte, Funktionsunfähigkeiten weiterer rumpfferner Körperteile wie etwa der Hand seien bei der Bemessung des Invaliditätsgrades zu addieren13.

Auf dieser Grundlage entspricht es nahezu einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass die Funktionsunfähigkeit eines rumpfnäheren Gliedes die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Gliedes einschließt und eine Addition der Werte aus der Gliedertaxe nicht stattfindet14. Lediglich Knappmann äußert Bedenken, ob das System der Gliedertaxe hinreichend transparent sei, weil einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer kaum hinreichend vor Augen gestellt werde, dass zusätzliche Beschwerden und unfallbedingte krankhafte Veränderungen außerhalb des Sitzes der unmittelbaren Verletzung und der Beschwerden nicht bewertet werden sollten15. Jedenfalls für die hier in Betracht kommende Fallgruppe, bei der es darum geht, ob die Funktionsunfähigkeit des rumpfnäheren Gliedes die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Gliedes bei der Bemessung der Invalidität beinhaltet, kann der Versicherungsnehmer aus den genannten Gründen den Bedingungen entnehmen, dass keine Addition der einzelnen Invaliditätsgrade stattfindet.

Eine Einschränkung erfährt diese Auslegung der AUB lediglich für den Fall, dass die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Körperteils zu einem höheren Invaliditätsgrad führt als die Funktionsunfähigkeit des rumpfnäheren Körperteils. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die verschiedenen Körperteile keine vollständige Funktionsunfähigkeit erfahren haben, sondern nur teilweise beeinträchtigt sind. In einem solchen Fall stellt die Invaliditätsleistung für das rumpffernere Körperteil die Untergrenze der geschuldeten Versicherungsleistung dar16.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 14. Dezember 2011 – IV ZR 34/11

  1. BGH, Urteil vom 23.06.1999 IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83, 85; BGH, Beschluss vom 24.06.2009 IV ZR 110/07, VersR 2009, 1617 Rn. 7[]
  2. BGH, Urteil vom 15.12.2010 IV ZR 24/10, VersR 2011, 202 Rn. 10[]
  3. vgl. zu diesem Verständnis der Gliedertaxe BGH, Urteile vom 15.12.2010 aaO Rn. 11; vom 24.05.2006 IV ZR 203/03, VersR 2006, 1117 unter II 1 a; vom 17.01.2001 IV ZR 32/00, VersR 2001, 360 unter 2 a; vom 23.01.1991 IV ZR 60/90, VersR 1991, 413[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 09.07.2003 IV ZR 74/02, VersR 2003, 1163 unter II 2 c (3); vom 17.10.1990 IV ZR 178/89, VersR 1991, 57 unter 3 b; vom 30.05.1990 IV ZR 143/89, VersR 1990, 964 unter 2 a; Bruck/Möller/Leverenz, VVG 9. Aufl. AUB 2008 Ziff.02.1 Rn. 185; Knappmann, VersR 2003, 430, 431[]
  5. BGH, Urteile vom 17.01.2001 aaO; vom 30.05.1990 aaO[]
  6. vgl. OLG Celle VRR 2010, 424, 425; LG Dortmund r+s 2009, 476; Grimm, AUB 4. Aufl. AUB 99 Ziff. 2 Rn.20; HK-VVG/Rüffer, 2. Aufl. AUB 2008 Ziff. 2 Rn. 23[]
  7. BGH, Urteil vom 09.07.2003 aaO unter II 2 c (2) []
  8. BGH, Urteil vom 23.06.2004 IV – ZR 130/03, BGHZ 159, 360, 364[]
  9. Prölss in Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. Vorbem. III Rn. 21[]
  10. Urteil vom 17.01.2001 IV ZR 32/00, VersR 2001, 360[]
  11. Urteil vom 09.07.2003 aaO[]
  12. BGH, Urteile vom 24.05.2006, aaO; und vom 12.12.2007 – IV ZR 178/06, VersR 2008, 483[]
  13. vgl. auch OLG Hamm ZfS 2011, 280; OLG Celle aaO; LG Dortmund aaO[]
  14. OLG Hamm aaO S. 281, 282; OLG Celle aaO; OLG Brandenburg r+s 2006, 207, 208; OLG Köln r+s 2003, 472; LG Dortmund aaO; HK-VVG/Rüffer aaO; Grimm aaO; Bruck/Möller/Leverenz aaO Rn. 187, 190; Schubach/Jansen, Private Unfallversicherung Ziff.02.1 Rn. 40; Mangen in Beckmann/MatuscheBeckmann, VersicherungsrechtsHandbuch § 47 Rn. 188; Stiefel/Maier, AKB 18. Aufl. AKB A 4.5 Rn. 21 f.; Kloth/Neuhaus, Private Unfallversicherung G V 2 g Rn. 89, 90; Terbille/Hormuth, Münchner Anwaltshandbuch 2. Aufl. § 24 Rn. 74[]
  15. Prölss/Martin aaO Nr. 2 AUB 2008 Rn. 31[]
  16. OLG Hamm aaO S. 282; OLG Köln r+s 2003, 472; Kloth/Neuhaus aaO Rn. 89; Stiefel/Maier aaO Rn. 22; Bruck/Möller/Leverenz aaO Rn. 189[]