Kommt der Versicherungsnehmer, der sich nach einem Verkehrsunfall erlaubt vom Unfallort entfernt hat, seiner Pflicht zur unverzüglichen Ermöglichung nachträglicher Feststellungen nicht rechtzeitig nach, informiert er jedoch statt dessen seinen Versicherer zu einem Zeitpunkt, zu dem er durch Mitteilung an den Geschädigten eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 StGB noch hätte abwehren können, so begründet allein die unterlassene Erfüllung der Pflicht nach § 142 Abs. 2 StGB keine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit1.
Dies entschied jetzt der Bundesgerichtshof in einem Fall, in dem sich die Obliegenheiten des Versicherungsnehmers und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung nach den Regelungen der AKB Stand 1. Januar 2008 richteten.
Der Bundesgerichtshof bejahte zunächst eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung nach § 142 Abs. 2 StGB durch den Versicherungsnehmer: Dieser war, nachdem er sich mangels feststellungsbereiter Personen in der Nacht nach Ablauf der Wartefrist vom Unfallort entfernen durfte, wegen des eingetretenen Fremdschadens am Straßenbaum verpflichtet, die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch unverzügliche nachträgliche Mitteilung zu ermöglichen. Dafür hätte eine entsprechende Meldung bei der Polizei oder dem Geschädigten, hier also dem zuständigen Straßenbauamt, genügt, § 142 Abs. 3 StGB. Unstreitig ist der Versicherungsnehmer dieser Verpflichtung nicht nachgekommen.
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass das in der Vorinstanz das Oberlandesgericht Dresden2 insoweit mindestens bedingten Vorsatz des Versicherungsnehmers bejaht hat. Es hat diesen daraus gefolgert, dass für den Versicherungsnehmer schon aufgrund des Ausmaßes der Beschädigung seines eigenen Fahrzeugs durch die Kollision mit dem Baum offensichtlich gewesen sei, dass er erhebliche Schäden auch am Baum verursacht haben müsse. Diese Schlussfolgerung liegt im Rahmen tatrichterlichen Ermessens bei der Beurteilung des Sachverhalts; sie verstößt nicht gegen Denkgesetze und beruht nicht auf verfahrenswidriger Tatsachenfeststellung3.
Allerdings folgt für den Bundesgerichtshof aus der Verletzung der Handlungspflichten nach § 142 Abs. 2 StGB, nachdem sich der Unfallbeteiligte wie hier berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt hat, nicht in gleicher Weise automatisch eine Verletzung der allgemeinen Aufklärungsobliegenheit folgt wie in den Fällen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 Abs. 1 StGB.
Der Zweck des § 142 StGB besteht darin, die privaten Interessen der Unfallbeteiligten und Geschädigten zu schützen, insbesondere die ihnen aus dem Verkehrsunfall erwachsenen zivilrechtlichen Ansprüche zu sichern und dem Verlust von Beweismitteln zu begegnen4. Dies deckt sich regelmäßig mit dem Interesse des Versicherers an der vollständigen Aufklärung des Unfallhergangs und der Unfallursachen, das mit dem Verlassen des Unfallorts nachhaltig beeinträchtigt wird5. Dabei geht es auch darum, dem Versicherer die Feststellung von Tatsachen zu ermöglichen, aus denen sich seine Leistungsfreiheit ergeben kann. Insbesondere besteht ein Interesse an der Feststellung etwaiger alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit sowie der Person des Fahrers6.
Dieses Aufklärungsinteresse wird grundsätzlich auch durch die Verletzung der in § 142 Abs. 2 StGB niedergelegten Pflicht zur „unverzüglichen“ nachträglichen Ermöglichung von Feststellungen beeinträchtigt, selbst wenn die Aufklärung nicht mehr in allen Fällen in jeder Hinsicht mit derselben Zuverlässigkeit erfolgen kann wie bei einem am Unfallort verbliebenen und dort angetroffenen Unfallbeteiligten.
Dies gilt insbesondere deshalb, weil auch die Beachtung der Pflicht zur nachträglichen Ermöglichung von Feststellungen wegen des Gebots der Unverzüglichkeit eine Aufklärung zum Beispiel der Fahrtüchtigkeit des Fahrers unter Umständen noch ermöglichen kann. Auch wenn § 142 Abs. 3 StGB dem Unfallbeteiligten im Ausgangspunkt die Wahl belässt, ob er die erforderlichen nachträglichen Angaben gegenüber der Polizei oder gegenüber dem Berechtigten i.S. von § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB macht, so besteht dieses Wahlrecht doch nur innerhalb der Grenzen des Unverzüglichkeitsgebots. Je nach den Umständen des Einzelfalles kann das dazu führen, dass dem Unfallbeteiligten, der die Einschaltung der Polizei oder einer anderen Person vermeiden will und sich deshalb unmittelbar an den Geschädigten wenden möchte, dieser Weg verschlossen ist, weil er den Geschädigten nicht innerhalb einer Frist, die diesem Gebot gerecht wird, erreichen kann7.
Andererseits ist eine nachträgliche Mitteilung dann noch unverzüglich im Sinne von § 142 Abs. 2 StGB, wenn sie noch den Zweck erfüllt, zugunsten des Geschädigten die zur Klärung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit notwendigen Feststellungen treffen zu können. Weiteres Zögern ist also vorwerfbar, wenn es geeignet ist, den Beweiswert dieser notwendigen Feststellungen zu beeinträchtigen. Das ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen8. Insoweit können Fahrtauglichkeit und Alkoholisierung von Bedeutung sein, müssen es aber nicht stets. So kann eine eindeutige Haftungslage auch unabhängig von der Fahrtauglichkeit des Unfallbeteiligten gegeben sein, etwa weil nur ein Sachschaden an einem stehenden Objekt (wie hier dem Baum) verursacht worden ist. Dann kann auch eine spätere Meldung noch dem Unverzüglichkeitsgebot genügen. Weitere Kriterien für die Bestimmung der Unverzüglichkeit sind Unfallzeitpunkt, Schadenhöhe und Erreichbarkeit des Berechtigten. Bei nächtlichen Unfällen mit eindeutiger Haftungslage kann die Unverzüglichkeit je nach Sachverhalt noch zu bejahen sein, wenn der Unfallbeteiligte die Feststellungen bis zum frühen Vormittag des darauf folgenden Tages ermöglicht hat9.
Für die allgemeine Aufklärungsobliegenheit, wie sie hier in E.01.3 Satz 1 AKB verankert ist, bedeutet dies Folgendes:
Anders als in den Fällen des § 142 Abs. 1 StGB wird das Aufklärungsinteresse des Versicherers durch einen Verstoß gegen Absatz 2 der Norm nicht in jedem Falle beeinträchtigt, weil sie ein Handeln des Versicherungsnehmers unter Umständen noch zu einem Zeitpunkt genügen lässt, zu dem Erkenntnisse bezüglich des Unfalls nicht mehr in gleicher Weise zu gewinnen sind. Dann aber sind die Interessen des Versicherers durch die unmittelbar an ihn oder seinen Agenten erfolgende Mitteilung mindestens ebenso gut gewahrt wie durch eine nachträgliche Benachrichtigung des Geschädigten10. Allein auf diesen Zeitpunkt kommt es an, weil der Versicherungsnehmer, der sich zuvor nach Ablauf der Wartezeit oder sonst erlaubt vom Unfallort entfernt hat, dadurch noch nicht gegen Aufklärungsobliegenheiten verstoßen hat. Der Versicherungsnehmer, der seinen Versicherer zu einem Zeitpunkt informiert, zu dem er durch Mitteilung an den Geschädigten eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 StGB noch hätte abwehren können, verletzt deshalb allein durch die unterlassene Erfüllung der Pflicht nach § 142 Abs. 2 StGB keine Aufklärungsobliegenheit.
Das Berufungsgericht, das hierzu bislang keine Feststellungen getroffen hat, wird deshalb aufzuklären haben, wann der Versicherungsnehmer die Beklagte oder ihren Agenten erstmalig über den Unfall und seine Beteiligung hieran informiert hat, nachdem der Versicherungsnehmer in der Klageschrift vorgetragen hatte, der Beklagten den Schaden „unverzüglich“ gemeldet zu haben. Sollte dies rechtzeitig im Sinne des § 142 Abs. 2 StGB gewesen sein, so wäre der Versicherungsnehmer seiner Aufklärungsobliegenheit damit noch rechtzeitig nachgekommen.
Für das weitere Verfahren weist der Bundesgerichtshof auf Folgendes hin:
Sollte die weitere Sachaufklärung ergeben, dass der Versicherungsnehmer seine Aufklärungsobliegenheit verletzt hat, weil er die Beklagte nicht innerhalb einer Frist informiert hat, die dem Unverzüglichkeitsgebot des § 142 Abs. 2 StGB genügt, so wird das Berufungsgericht erneut zu prüfen haben, ob der Leistungsfreiheit der Beklagten die mangelnde Kausalität dieser Obliegenheitsverletzung für die Feststellung des Versicherungsfalls und die Feststellung oder den Umfang ihrer Leistungspflicht entgegensteht, E.6.2 AKB. Die Ablehnung dieses so genannten Kausalitätsgegenbeweises durch das Berufungsgericht ist ebenfalls von Rechtsfehlern beeinflusst.
Das Berufungsgericht hat den Kausalitätsgegenbeweis für ausgeschlossen gehalten, weil der Versicherungsnehmer arglistig gehandelt habe. Dies entspricht zwar der Regelung in E.6.2 Satz 2 AKB (inhaltsgleich § 28 Abs. 3 Satz 2 VVG); jedoch ist Arglist des Versicherungsnehmers in nicht tragfähiger Weise festgestellt.
Eine arglistige Verletzung der Aufklärungsobliegenheit setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer einen gegen die Interessen des Versicherers gerichteten Zweck verfolgt und weiß, dass sein Verhalten die Schadenregulierung möglicherweise beeinflussen kann11.
Das OLG Dresden hat dazu in seinem Berufungsurteil ausgeführt, dass es in den Fällen des § 142 StGB stets eine arglistige Handlungsweise des Versicherungsnehmers annehme, wenn jegliche nachträgliche Ermöglichung von unfallrelevanten Feststellungen verhindert werde.
Dies lässt die notwendige einzelfallbezogene Betrachtung des Handelns des Versicherungsnehmers vermissen. Insbesondere hat das Berufungsgericht infolge dieser pauschalen Bejahung von Arglist nicht bedacht, dass es für die Beurteilung des Handelns des Versicherungsnehmers allein auf den Zeitpunkt ankommt, in dem dieser die Obliegenheit verletzt, hier also die Zeit, zu der der Versicherungsnehmer seiner Pflicht aus § 142 Abs. 2 StGB noch hätte nachkommen können. Das Berufungsgericht wird deshalb die Frage der Arglist unter Beachtung dieses Maßstabs gegebenenfalls neu zu prüfen haben.
Der Kausalitätsgegenbeweis erfordert im Streitfall ebenfalls nicht zwingend den Nachweis, dass der Versicherungsnehmer im Unfallzeitpunkt nicht alkoholisiert gewesen ist sein diesbezüglicher Vortrag ist allerdings entgegen der Annahme des Berufungsgerichts als ausreichend substantiiert anzusehen ; vielmehr genügte für eine fehlende Kausalität der Obliegenheitsverletzung bereits die Feststellung, dass die Beachtung der aus § 142 Abs. 2 StGB folgenden Rechtspflichten durch den Versicherungsnehmer der Beklagten keine zusätzlichen Aufklärungsmöglichkeiten verschafft hätte. Auch das hat das Berufungsgericht übersehen.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 21. November 2012 – IV ZR 97/11
- Fortführung von BGH, Urteil vom 01.12.1999 – IV ZR 71/99, VersR 2000, 222[↩]
- OLG Dresden, Urteil vom 06.04.2011 – 7 U 1310/10[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 10.11.2009 XI ZR 252/08, BGHZ 183, 112 Rn. 26 und vom 18.12.2007 XI ZR 76/06, NJW-RR 2008, 643 Rn.20[↩]
- vgl. BT-Drucks. 7/2434 S. 4 f.; BGH, Beschluss vom 29.11.1979 4 StR 624/78, BGHSt 29, 138 unter III 2[↩]
- BGH, Urteil vom 01.12.1999 IV ZR 71/99, VersR 2000, 222 unter II 1[↩]
- BGH, Urteil aaO unter II 2[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.11.1979 4 StR 624/78, BGHSt 29, 138 unter III 2[↩]
- BGH aaO[↩]
- vgl. OLG Köln VRS 64, 116, 118 f.; OLG Hamm VRS 61, 263, 265; BayObLG VRS 58, 406, 407 f.; VRS 58, 408, 409 f.; VRS 58, 410, 411 f.; siehe zum Ganzen ferner MünchKomm-StGB/Zopfs 2. Aufl. § 142 Rn. 108 ff. m.w.N.[↩]
- so zutreffend OLG Karlsruhe VersR 2002, 1021 unter I 2 c; ebenso Maier in Stiefel/Maier, Kraftfahrtversicherung 18. Aufl. AKB E.1 Rn. 140[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 04.05.2009 IV ZR 62/07, VersR 2009, 968 Rn. 9[↩]