Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert – und die tatsächlichen Wiedererrichtungskosten

Der Versicherungsnehmer einer Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert kann die Neuwertspanne auch dann verlangen, wenn die tatsächlichen Aufwendungen für die Wiederherstellung des versicherten Gebäudes günstiger als der Neuwert waren.

Der Versicherungsnehmer einer Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert unter Einbeziehung der VGB 88 kann die Neuwertentschädigung unabhängig davon beanspruchen, ob der tatsächliche Wiederherstellungsaufwand den abstrakt berechneten Neuwertschaden zumindest beinahe erreicht.

§ 15 Nr. 4 VGB 88 enthält eine so genannte strenge Wiederherstellungsklausel, nach der – gemäß den Anforderungen des § 97 VVG a.F. – die Sicherstellung der Verwendung der Entschädigung zur Wiederherstellung oder Wiederbeschaffung Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf Ersatz des Schadens ist, der über den Zeitwertschaden hinausgeht. Ohne diese Verwendungssicherstellung oder die Wiederherstellung selbst ist der Anspruch auf den Ersatz des Zeitwertschadens beschränkt1.

Die Sicherstellung im Streitfall nach den gegebenen Umständen festzustellen, ist Sache des Tatrichters. Sie erfordert eine Prognose in dem Sinne, dass bei vorausschauendwertender Betrachtungsweise eine bestimmungsgemäße Verwendung der Entschädigung hinreichend sicher angenommen werden kann. Das ist beispielsweise anzunehmen nach verbindlichem Abschluss eines Bauvertrages oder eines Fertighauskaufvertrages mit einem leistungsfähigen Unternehmer2. Wurde das zerstörte Gebäude bereits in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederhergestellt, so ist grundsätzlich von einer Verwendung der Entschädigung zur Wiederherstellung auszugehen.

§ 15 Nr. 4 Satz 1 VGB 88 ist aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers so auszulegen, dass der Versicherer die Neuwertentschädigung hinsichtlich der wiederbeschafften und wiederhergestellten Sachen auch dann zu zahlen hat, wenn die tatsächlichen Aufwendungen günstiger waren als der Neuwert oder sogar den Zeitwert unterschritten3.

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer geht vom Wortlaut der Klausel aus. Danach entsteht der Anspruch auf Zahlung des Teils der Entschädigung, der den Zeitwertschaden übersteigt, nur, soweit und sobald der Versicherungsnehmer innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles sichergestellt hat, dass er die Entschädigung verwenden wird, um versicherte Sachen in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederherzustellen. Die „Sicherstellung“ versteht er so, dass der Wille zur Wiederherstellung ernsthaft – etwa durch Vergabe von Bauleistungen – zum Ausdruck kommen muss und daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine bestimmungsgemäße Verwendung der Entschädigung erwartet werden kann4. Ob und in welcher Höhe der Anspruch auf Zahlung des den Zeitwertschaden übersteigenden Teils der Entschädigung fällig wird, wenn die zerstörte Sache innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles bereits wiederhergestellt worden ist, kann der durchschnittliche Versicherungsnehmer nicht dem Wortlaut des § 15 Nr. 4 Satz 1 VGB 88 entnehmen. Dort wird nur die Sicherstellung der Verwendung der Entschädigung, nicht aber die Wiederherstellung erwähnt.

Allerdings wird ein verständiger Versicherungsnehmer annehmen, dass er die Neuwertentschädigung auch dann erhält, wenn er innerhalb der Dreijahresfrist die versicherte Sache in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederhergestellt hat. Dabei orientiert er sich an dem ihm erkennbaren Zweck der Neuwertversicherung. Mit ihr soll der etwaige Schaden ausgeglichen werden, der dem Versicherungsnehmer dadurch entsteht, dass er einen höheren Betrag als den Zeitwert aufwenden muss, wenn er das zerstörte Gebäude wiederherstellt. Auf diesen tatsächlichen Schaden ist der Umfang des Ersatzanspruches beschränkt. Die Neuwertversicherung soll grundsätzlich nicht auch solche Aufwendungen abdecken, die durch wesentliche Verbesserungen des Gebäudes bei seiner Wiedererrichtung verursacht wurden. Eine derartige Bereicherung des Versicherungsnehmers aus Anlass des Schadenfalles ist zu vermeiden, auch um das Interesse am Abbrennen des versicherten Gebäudes nicht zu fördern. Schon darin, dass der Versicherungsnehmer nach der Wiederherstellung ein neues Gebäude hat, liegt eine Bereicherung, die aber gerechtfertigt ist und deshalb hingenommen werden kann. Zweck der Wiederherstellungsklausel ist es lediglich, die Bereicherung durch die Neuwertentschädigung auf den Teil zu beschränken, der das Bedürfnis für die Neuwertversicherung begründet, also auf die ungeplanten, dem Versicherungsnehmer erst durch den Versicherungsfall aufgezwungenen Ausgaben5. Für den Versicherungsnehmer ersichtlich zielt die Bestimmung auf die Begrenzung des subjektiven Risikos des Versicherers, der davor geschützt werden soll, dass der Versicherungsnehmer – wie bei freier Verwendbarkeit der Versicherungsleistung – in Versuchung geraten könnte, sich durch Vortäuschen eines Versicherungsfalles Vermögensvorteile zu verschaffen6. Diese Gefahr besteht nicht mehr, wenn der Versicherungsnehmer die zerstörte Sache wiederherstellt und damit den Sachwert erhalten hat, der ihm durch die Neuwertentschädigung vergütet werden soll. Allein die Erbringung von Eigenleistungen, die die Baukosten reduzieren, rechtfertigt es aus der Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers nicht, ihm die Neuwertentschädigung zu versagen, weil der Zweck der strengen Wiederherstellungsklausel, präventiv Missbrauch zu verhindern und die Versicherungsleistung an den Sachwert zu binden, bereits erreicht ist.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Juli 2011 – IV ZR 148/10

  1. BGH, Urteile vom 18.02.2004 – IV ZR 94/03, VersR 2004, 512 unter II 1 a; vom 13.12.2000 – IV ZR 280/99, VersR 2001, 326, unter I 2 a und b, m.w.N.[]
  2. BGH, Urteil vom 18.02.2004 aaO unter II 1 b m.w.N.[]
  3. so auch OLG Köln r+s 1994, 146, 147; Staudinger in MünchKomm-VVG § 93 Rn. 17; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. § 93 Rn. 21; Kollhosser in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 97 Rn. 10; Langheid in Römer/Langheid, VVG 2. Aufl. § 97 Rn. 18; Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. R IV Rn. 56 ff.; jeweils m.w.N.[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 18.02.2004 aaO[]
  5. BGH, Urteil vom 21.02.1990 – IV ZR 298/88, VersR 1990, 488 unter 2 m.w.N. zu § 7 Nr. 3 a VGB 62; vgl. BGH, Urteil vom 08.06.1988 – IVa ZR 100/87, VersR 1988, 925 unter II 1; jeweils m.w.N.[]
  6. BGH, Urteil vom 18.02.2004 aaO unter II 1 c m.w.N.; Kollhosser aaO Rn. 8[]